Montag, 8. Oktober 2012

108 Die Schlucht von Tsivo[1]



Wendys dreizehntes Abenteuer


Wendy zog es zu einer Abbruchstelle, einem felsigen Hang, an dem er früher besondere Steine gefunden hatte. Da er von oben in den Hang einsteigen wollte, landete er wieder in den Bergen. Dieses Mal geriet er in ein Gebirgsstädtchen, das dem modernen Treiben ganz entrückt schien. Über den Stadtplatz gehend sah er sich ringsum von kleinen, nahtlos miteinander verbundenen Holzhäusern umgeben. Sie war menschenleer. Ein pittoresker Anblick, diese Kleinstadt im Gebirge, aber durch ihre Leere auch gespenstig. Sie kam ihm vor wie ein Stetl irgendwo in einem osteuropäischen Land. Er ging näher an die Holzhäuser heran, um die Öffnung ausfindig zu machen, die ihm den Durchgang nach unten in die tiefer gelegene Straße und zum felsigen Hang ermöglichen sollte. Da standen doch zwei Personen vor ihrem Haus. Sie traten näher zu ihm und räusperten sich.
Was das für eine Kleidung sei, die er trage, fragten sie neugierig. Selber sahen sie aus wie Statisten in einem schlechten Geschichtsfilm.
Wendy zog mit den Fingern an seinem Oberteil und erklärte. „Das ist ein Sweater.“ Dann berührte er mit der Handfläche den Oberschenkel und sagte. „Das ist eine Jeans.“
Die Frau und der Mann schauten sich verwundert an. Wendy schaute sie seinerseits an und fragte sich, ob es möglich sei, dass sie noch nie jemanden in Jeans gesehen hatten. Er ging weiter und fand die Lücke zwischen den Holzhäusern und ging hindurch. Die untere Straße war geneigt und führte direkt zum steinigen Abhang, der sein Ziel war.
Wendy wollte weiter nach unten, wo er damals die Steine gefunden hatte. Aber er wurde von einem trockenen Bachbett angezogen, das ein Sturzbach abwärts in den steilen Hang gerissen hatte. Von den Häusern herab kam ein geschmeidiger junger Montagner direkt auf ihn zu.
Was er hier mache, fragte dieser neugierig.
„Ich suche besondere Steine“, gab Wendy zur Antwort.
Es habe an diesem Hang auch essbare Pflanzen und Pilze, versuchte der Bergler ihn zu gewinnen und schlug vor, sie könnten gemeinsam etwas ernten und essen.
Der sehnige, junge Mann gefiel Wendy – trotz seiner altmodischen Kleidung. Er schloss sich gern mit ihm zusammen. Wer weiß was sich beim gemeinsamen Sammeln und Verzehren entwickeln konnte.
Direkt vor ihnen, an der Böschung des trockenen Sturzbaches, wuchsen besondere Pilze. Ihre Form war ungewöhnlich. Der Schaft war gerade und hoch, der Aufbau zylindrisch. Sie glichen eher einer Tulpe als einem gewöhnlichen Pilz. Doch die Farbe war grau mit schwarzen Einfassungen. Ob sie essbar seien, fragte er sich. Doch da fiel ihm ein, dass er sie schon mal gedämpft gegessen hatte, als herausragende Spezialität. Wendy setzte sich auf ein Stück einer Mauer, die jemand aus ein paar Steinen aufgehäuft hatte. Inzwischen hatte auch eine junge Montagnerin ihn, den Exoten und Eindringling, entdeckt. Mit ihrem braunen Rock setzte sie sich ungeniert zu ihm auf die Mauer. Wenig später lehnte sie sogar ihren Kopf auf seine Schulter. So begehrt zu sein, von so besonderen Menschen, versetzte Wendy in einen erregten Zustand. Doch da erbebte der Hang. Sie drehten sich um und gewahrten ein ungeheures Raupenfahrzeug, das die Halde hochfuhr. Als Wendy sah, wie der sonderbare Pilz von der Erschütterung zitterte, wusste er plötzlich, womit er diese sonderbare Form verband. Es war eine Handgranate aus dem letzten Krieg, die hier noch steckte. So waren diese geformt gewesen. Beim Gedanken an die gedämpften Pilze erschien jetzt ein Trümmerfeld vor seinen Augen. Schlachtenlärm dröhnte in seinen Ohren. Ein schauriges Gefühl überkam ihn, als stecke er mitten im Krieg.
Nach diesem Erlebnis im Gebirge, folgte eines im Tal.

Er war hier als Vorleser und Sprecher tätig. Aber er hatte plötzlich große Schwierigkeiten in seinem Beruf. Wenn er auf bestimmte Stellen im Text traf, traten ihm Tränen in die Augen und seine Stimme fing an zu zittern. Dann musste jemand für ihn einspringen und er verlor die Gage für den Abend, auf die er dringend angewiesen war.
Es waren meistens Texte vom Krieg, über die er stolperte. Vom letzten Krieg und von der Gefangenschaft. Die plötzliche Rührung war ihm unbegreiflich, da er damals ja noch nicht gelebt hatte. Se war aber so stark, dass er nicht weiterlesen konnte.
Vielleicht lag es aber auch an der beengten Situation, in der Wendy lebte. Er bewohnte den mittleren Teil eines Raumes, der durch zwei Trennwände in drei schmale Streifen unterteilt war. Er konnte, wenn das Pult und das Bett ganz an die eine Trennwand gerückt war, gerade an diesen vorbeischlüpfen. Wendy saß in dieser Enge am Pult und versuchte eine Passage zu proben. Aber kaum dass er auf das Kriegsgeschehen stieß, fing seine Stimme wieder an zu beben. Wenn es so weiter geht, muss ich bald meinen Beruf wechseln, dachte er. Er überlegte sogar ein Buch zu schreiben, mit dem Titel, ‚Der zitternde Mann. Eine Geschichte meiner Nerven‘. In Anlehnung an eine Schriftstellerin, die Ähnliches durchmachte.

Rechts von ihm, im äußeren Streifen, hielt sich einer auf, dem es noch schlechter ging als ihm. Wendy war schon durch die Tür in der Zwischenwand bei ihm vorbeigegangen. Äußerlich beeindruckte der Zimmernachbar durch eine große Statur und ein sympathisches Aussehen. Aber er schien völlig unbeherrscht. Gewiss trank er auch.
Wieder in seinem Streifen hörte Wendy, wie sein Mitbewohner abwechselnd telefonierte und Selbstgespräche führte. Es ging immer um eine Frau, die ihn wohl vor die Tür gesetzt hatte. Anfangs hatte Wendy, verstrickt in die eigenen Sorgen, nicht hingehört. Doch je länger die Selbstgespräche andauerten, umso mehr gab er auf ihn Acht.
Den linken Streifen des Zimmers bewohnte eine Frau. Sie verhielt sich recht ungeniert und kam öfter durch Wendys Abschnitt und wechselte dann durch die Tür in den ihren. Er sah sie aber nie von dem rechten Raumstreifen kommen. Wendy überlegte, ob sie die Frau sein konnte, nach der sich sein Nachbar im rechten Streifen verzehrte. Als der Mitbewohner rechts wieder laut klagte, hielt sie inne und schüttelte verächtlich den Kopf über ihn. Was ihn in seiner Vermutung bestärkte. Sie hielt ihn wohl für selbstbezogen und wehleidig. Womit sie nicht ganz unrecht zu haben schien. Trotzdem tat Wendy der gebeutelte Mitbewohner leid. In einer neuen Anwandlung wurde sein Nachbar so laut, dass die Wände bebten. Wendy war erstaunt, dass dieser trotz der überfließenden Emotionen in einer astreinen Sprache redete. Eine Fähigkeit, die ihm abging. Der Leidende musste wohl Schauspieler sein oder von Natur aus besonders sprachbegabt.
Dieser jüngste Ausbruch gab Wendy den Anstoß seinen Nachbar aufzusuchen. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, diesem stattlichen Mann mit der schönen Sprechstimme zu helfen. Vielleicht konnte dieser ihn im Gegenzug von seiner Sprechhemmung befreien. Er trat durch die Tür in der Trennwand. Die erste Reaktion des Leidenden war abwehrend, ja abschätzig. Aber Wendy ließ sich nicht abschrecken.
„Du sitzt die ganze Zeit hier und rührst dich nicht“, warf er ihm vor. „Da muss man ja trübsinnig werden. Lass uns nach draußen gehen. Bewegung tut gut. Insbesondere wenn man gemütskrank ist, wie du. Ich wünsche mir auch mal rauszukommen. Lass uns zusammen losgehen.“
Gerade begeistert wirkte der stattliche Mann nicht, aber schließlich willige er ein und raffte sich auf. Gemeinsam gingen sie nach draußen. Die Landschaft war eine urtümliche, die kargen, unebenen Wiesen waren von Steinen durchsetzt und von Steinmauern unterteilt. Darüber bewegten sich Wolken, die das Grün mit einem unruhig wechselnden Muster überzogen. Der Weg führte geradewegs von ihrem Haus weg. Er war eingefasst von einer höheren Mauer links zum Hang hin und einer niederen zu den Wiesen hin. Wendy hatte den Arm über die Schulter des Leidenden gelegt. Es war unbequem, weil er kleiner war als der, den er begleitete. Er hätte ihn lieber um die Taille gehalten. Aber er wagte nicht die Haltung zu ändern, weil er fürchtete, dass der Leidende sich sonst von ihm lösen würde. Sein Arm hatte ihn aber sichtlich beruhigt. Vor dem Gehöft, auf das der Weg zuführte, stießen sie auf einen Abzweigung nach links und rechts. Sie folgten den Weg nach links, den Hang hoch. Kurz darauf wurde der Weg wieder flacher, stieß aber dann auf eine Bergwand mit einer Öffnung darin. Das Wegstück vor dem Loch war graslos. Wendy fühlte sich von dem braunroten, rutschigen Boden gewarnt. Er bat den Stattlichen stehen zu bleiben und ging selber seitlich an die Bergwand ran. Der Blick durch die Öffnung zeigte nicht einen tiefen Abgrund, wie er befürchtet hatte, sondern einen Querstollen, der etwa zwei Meter tiefer lag. Der Stollen war von weiter drüben beleuchtet und es wuchs Gras darin. Trotzdem wollte Wendy umkehren. Dem Stattlichen war die Warterei zu lange geworden. Er tastete sich vor und als er sah, dass der Unterschied im Niveau nicht groß war, sprang er hinunter und übernahm die Führung. Gezwungenermaßen folgte Wendy.
Sie durchquerten den Stollen zur Öffnung hin, wo das Licht herkam. Nach einem kurzen Gang durch die Höhle gelangten sie auf die andere Seite des Berges und befanden sich in einer anderen Welt. Nach links in den Berg hinein zeigte sich ein Kessel. Ein schmaler Weg führte durch hohes Gras dorthin. Sie nahmen diesen Weg. Auf dem kurzen Stück kam ihnen ein Junge entgegen. Es folgten ihm zwei Hunde, die sie nicht gleich sahen, weil sie durch das hohe Gras schweiften. Bei ihnen angelangt drehte der Junge um und begleitete sie. Durch eine Engstelle gelangten sie zum Kessel im Berg, der rundum von Steilwänden eingefasst war. Wendy glaubte wieder das Beben zu spüren, das er im Steilhang unterhalb des Städtchens erlebt hatte.
Der Junge wies hinein und sagte bedeutungsvoll.
Die Schlucht von Tsivo“.
‚Die Schlucht von Tsivo‘ wiederholte Wendy mechanisch. Plötzlich lag er in einem Schützengraben. Er war bewegungsunfähig, spürte wie seine Brust sich hob und senkte. Das Pfeifen von Gewehrkugeln und das Donnern von Geschützen dröhnten in seinen Ohren. Ringsherum eine wüste Landschaft, darüber Pulverdampf.
Seine Vision verflog. Sie liefen nun in einem leichten Bogen durch den Grund der Schlucht. Erstaunlicherweise hatte jemand die linke Hälfte dieses schattigen Runds geebnet und die feingehackte Erde bepflanzt. Es waren grüne Halmsprossen gewachsen, eine Spanne hoch.
„Fein, das Gärtle“, bemerkte Wendy zum Jungen. Aber ihm graute dabei. Er dachte bei sich, da hat jemand dem Chaos getrotzt. MLF



[1] Tzivos Hashem (literally, Army of God)

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